Klausuren, die Erste

Ganz offensichtlich hat alle der Klausurenstress erwischt. Wenn ich mir so die Away/NA/DND/Occupied-Messages ansehe … sogar der Gü (!) (nicht der BIN Gü!!) lernt. Krieg ich schon wieder diverse schlechte Gewissen, wenn der Flo ganz eifrig herüberwuselt und sich Zettel ausborgt von mir … und ich hab noch nicht einmal angefangen … und morgen ist Klausur … und ich checks wieder nicht … und ich werds nicht schaffen … und flieg von der Schule … und muss dann richtig arbeiten … aaahh, wo ist mein Skriptum …

Liebes Tagebuch!

Die Klausurenzeit ist eine seltsame, vor allem bei uns im Getto. Man kann mittlerweile des Nächtens sogar ganz gut schlafen auf der Strohpritsche – die nächtlichen Überfälle haben fast ganz aufgehört und es ist schon vier Tage her, seit mich ein Todesschrei aus einem Albtraum gerissen hat.
Aber wenn ich mir die Trauergestalten so ansehe, die müde durch die Gänge wanken, tut mir schon das Herz weh: Kaum einen der nicht schwarze Ringe unter den Augen hätte, tiefer als der Mariannengraben. Jeder Zweite hat die Fingernägel bis zu einem Stumpf abgebissen. Einigen bluten die Finger vom vielen Schreiben, anderen die Augen vom vielen Lesen und dritten der Rücken von diversen Selbstgeißelungen (die sollen angeblich das Lernvermögen um bis zu elf Prozent steigern).
Ständig gibt es Ohnmachtsanfälle, weil viele vollkommen vergessen, dass man zum Leben auch Nahrung benötigt (nicht nur Luft, Fingernägel und Zigaretten).
Nun, liebes Tagebuch, während ich hier in meinem Zimmer sitze höre ich aus dem Nebenzimmer ein verzweifeltes Schnauben und Raunzen, das aber nett untermalt wird von den kurzen spitzen Schreien aus dem Zimmer gegenüber und sich wunderbar in die Kakaphonie des leisen Weinens, dass seit Tagen über dem Getto liegt, einfügt.
Ich selbst stehe jedoch soverän über solchen primitiven, selbstverherrlichenden, überehrgeizigen Dingen.
Ich habe nämlich vorgeplant: Den Fernseher hab ich verkauft, den Computer verschenkt, das Handy zerstört, alle Bücher verbrannt, sämtliche Ostereierfiguren verräumt, die Batterien aus dem Taschenrechner verschluckt und mich selbst am Bett angekettet (gut, dass ich vor einiger Zeit in Tibet die erhabene Kunst des Fußschreibens erlernt habe, sonst, liebes Tagebuch, würde ich diese Worte nicht an dich richten können).
Du siehst, ich nehme diese verrückte Zeit mit der von mir gewohnten Coolness und Gelassenheit …

Liebe Grüße, Dein gar nicht nervöser Hannes