Die Programmierer-Tagebücher (1)

Linz, am 29. Oktober 2013

Geliebtes Tagebuch,

sicher hast du dich schon gewundert, warum ich dir schon so lange nichts mehr erzählt habe. Bitte hab aber Verständnis für diese Vernachlässigung, denn das liegt nur daran, dass mein Beruf auch noch mein letztes Stückchen Kraft aufbraucht.

Ach, in welch schönen Farben wurde mir das Berufsleben noch während des Studiums ausgemalt – Erfüllung im Job und Abwechslung wurde versprochen, Geld, Autos und Frauen. Und ich bin darauf herein gefallen.

Weißt du, geliebtes Tagebuch, Ich verbringe meine Tage damit, Software zu schreiben; und meine Nächte meistens auf meinem tränenbenetzten Polster vor Erschöpfung eindösend. Tagein, tagaus muss ich mit 24 anderen Programmierern meist bangladeschischer Herkunft den Schreibtisch teilen. Immerhin hat mittlerweile jeder von uns eine eigene Tastatur und eine eigene Maus, seit uns eine Hauptschule aus Mitleid ihre alte IT-Ausrüstung geschenkt hat.

Sollten wir den nächsten Release rechtzeitig fertig bekommen, hat uns der Teamleiter aber sogar einen funktionierenden Heizkörper versprochen. Unangenehm nur, dass dieser Release erst für den nächsten Sommer geplant ist. Sommer 2019.

Unser Teamleiter ist nämlich vom alten Schlag. Wortmeldungen, die auch nur entfernt in die Richtung „agile Entwicklung“ gehen, belohnt er entweder mit dem bösen Blick oder einer Ohrfeige. Den Kollegen, der einmal „Scrum“ erwähnt hat, haben wir seit dem nicht wieder gesehen. Überhaupt ist unser Teamleiter sogar Meinung, dass auch „Wasserfall“ noch zu wild, unplanbar, überstürzt und ad-hoc ist. Wir verfolgen daher ein Entwicklungsmodell namens „breites, ruhiges Stromdelta“.

Soweit ich das nach gut sechs Jahren im Unternehmen sagen kann, wird unser nächster Release deswegen auch unser erster sein. Der Teamleiter ist aber offenbar guter Hoffnung, dass wir den angepeilten, durchaus ambitionierten Termin tatsächlich halten können.

Denn schließlich haben sich die Kunden-Anforderungen, deren erste Version aus dem Jahr 1992 stammt, nun schon seit mehreren Jahre nicht mehr geändert. Überhaupt haben wir schon seit einiger Zeit nichts mehr von unserem Auftraggeber gehört. Der Teamleiter deutet dies als gutes Zeichen und Lob für seinen rabiaten Führungsstil, ich vermute aber eine Insolvenz, die man uns bloß mitzuteilen vergessen hat.

Ich verbleibe, mein geliebtes Tagebuch, und bedecke dich mit heißen Küssen,
~ saxx

Survivorship Bias

Vor einigen Monaten wurde ich auf ein „Konzept“ aufmerksam, dass ich recht spannend finde, und das sich sogar im Alltagsgebrauch als durchaus nützlich erweist: Dem Survivorship Bias.

Hierbei handelt es sich um jene Tendenz, sich bei der Bewertung einer Situation immer auf die „Überlebenden“ zu konzentrieren und alles andere zu übersehen beziehungsweise nicht zu berücksichtigen – um in Folge unbewusst die falschen Schlüsse zu ziehen. Hierbei kann es sich um Menschen handeln, aber auch um Unternehmen, Ideen, was auch immer.

Ein Beispiel, an dem ich alter Historiker mir die Sache besonders gut merke:

BomberIm zweiten Weltkrieg haben die Alliierten Wege gesucht, um die extrem hohen Verlustraten der eigenen Bomberflotten zu verkleinern. Dazu haben sie die wenigen überlebenden Bomber analysiert und schnell festgestellt, dass vor allem an den Flügeln, rund um den Heckschützen und entlang des Rumpfes die meisten Einschusslöcher waren. Die scheinbar logische Maßnahme der Bomberkonstrukteure war in Folge, an genau diesen Stellen besonders dicke und schwere Panzerung anzubringen.

Das war aber ein Fehler. Denn die Einschusslöcher zeigten nicht die Schwachstellen der Bomber, sondern wenig intuitiv deren Stärken. Denn immerhin waren dies bloß Löcher und der Bomber hat es trotzdem noch zurück nach Hause geschafft. Treffer an anderen Stellen haben sich viel fataler ausgewirkt, denn die haben die Bomber abstürzen lassen.

Ein typischer Fall von Survivorship Bias, bei dem man sich nur auf die Überlebenden konzentriert hat und in Folge die falschen Schlüsse gezogen hat.

ZuckerbergEin anderes Beispiel, das aktuell besonders in der Technologie-Branche spannend ist und viel zu wenig Beachtung findet: Überall liest man die Tage von wahnsinnig erfolgreichen Internet Start-Ups, von Studenten oder sonstigen Genies, die es quasi über Nacht zu Millionären gebracht haben, die nach wenigen Monaten Arbeit für viel Geld von Google aufgekauft wurden, die sich mit 25 zur Ruhe setzen können.

Und ja, solche Menschen gibt es sogar tatsächlich. Was aber in diesem Zusammenhang gerne vergessen wird, das sind die anderen. Nämlich die, die es trotz guter Idee und jahrelanger harter Arbeit nicht geschafft haben und die jetzt ausgebrannt und bankrott vor den Trümmern ihrer Existenz stehen. Und die wenigen, die es mit ihren Start-Ups wirklich schaffen, sind nur ein Bruchteil derjenigen, die mehr oder weniger tragisch untergehen. Nur hört und liest man halt üblicherweise nur von den erfolgreichen Überlebenden, und die sich aufdrängende Schlussfolgerung „Startup equals Success equals Money“ ist ein typischer Fall von Survivorship Bias.

VwKaeferEin letztes Beispiel: Mit verklärtem Blick erinnert sich so manches ältere Semester an die gute alte Zeit, vor allem an die Autos. Ach, die Autos, das war damals noch richtige gute Qualitätsarbeit, nicht Schrott wie heutzutage, der schon nach wenigen Jahren den Geist aufgibt. Man muss ja schließlich nur einen Blick auf den VW Käfer werfen – vor 70 Jahren entworfen, vor 50 oder 60 Jahren gebaut, und schnurrt noch immer wie ein Kätzchen.

Solche Qualität gab es halt nur früher. Stimmt, der VW Käfer ist ein Erfolg, an den kaum jemand heran kommt. Vor allem nicht die Hunderten anderen Automodelle und -entwürfe aus der selben Zeit, nach denen heute kein Hahn mehr kräht. Aus dem Käfer also auf eine im Vergleich zu heute überlegene deutsche Nachkriegs-Ingenieurskunst zu schließen ist … genau, Survivorship Bias.

Genug der einprägsamen Geschichtchen. Im ersten Absatz habe ich geschrieben, dass das Wissen um den Survivorship Bias auch im alltäglichen Gebrauch nützlich ist. Klar, einerseits irgendwie schon auch dafür, so manche Sache anders und besser zu bewerten. Viel mehr aber, um Diskussionen zu gewinnen.

Denn mit etwas Mühe und Kreativität findet man fast überall so etwas wie Survivorship Bias. Und es ist unheimlich effektiv, eine Diskussion abzuwürgen, indem man in den Raum wirft: „Hmm, ich glaube, du hast in deiner Schlussfolgerung eines nicht berücksichtigt. Bist du dir ganz sicher, dass du nicht im Einfluss von etwas Survivorship Bias stehst?“

Das hat dann nämlich eine von zwei Auswirkungen zur Folge:

  1. Der oder die Gegenüber hat keine Ahnung, wovon man spricht und man kann umgehend den eigenen haushoch überlegenen Intellekt unter Beweis stellen, indem man Survivorship Bias erklärt und unterhaltsame Anekdoten aus dem Zweitem Weltkrieg zum besten gibt.
  2. Der oder die Gegenüber muss innehalten und die eigene Argumentationskette neu aufrollen und durchleuchten. Selbst wenn er oder sie keinen entsprechende Voreingenommenheit entdecken kann – der Zweifel bleibt und die Argumentation ist in jedem Fall geschwächt.

In beiden Fällen geht man schnell als Sieger aus der Diskussion. Schlussfolgerung: Ein Hinweis auf Survivorship Bias ist fast genau so effektiv wie einer auf Godwins Law. Unfehlbar. Oder, hm hmm hmmm, ist das jetzt schon wieder Survivorship Bias?

Kein Problem mehr mit Ladenöffnungszeiten

Kurz nach der Nationalratswahl hätte ich noch eine hervorragende Idee für ein verspätetes Wahlzuckerl, das aber ursicher ganz wirklich eh gar keines ist, echt jetzt.

Als weitgehend zivilisierter Mensch habe ich wie viele andere mit einer unerträglichen Eigenheit des rückständigen traditionellen Österreichs zu kämpfen: Den Ladenöffnungszeiten.

Fast überall auf der Welt funktioniert es nämlich ganz gut, dass Supermärkte auch spätabends oder an Sonntagen geöffnet haben. Nur in Österreich zetern die Gewerkschaften ((Es war ja schon fast amüsant, was sich die Gewerkschaften wieder einmal im Hinblick auf die mittlerweile gescheiterte Daily-Kette geleistet hat: Zuerst mit allerlei Tricks und Kniffen die Sonntagsöffnung unterbinden, nur um nach den erzwungenen Schließungen vorwurfsvoll auf die vielen neuen Arbeitslosen zu verweisen.)) und die meisten Parteien schon bei einer vorsichtigen Erwähnung etwas von „undenkbar“, „unvorstellbar“, „es war ja schon immer so“  und malen Teufel beginnend von Arbeitnehmerausbeutung über Sklavenhaltung bis hin zur sofortigen Anarchie a la Mad Max an die Wand.

Nun gut, dass die Gewerkschaften zuerst einmal die eigenen Interessen vertreten, dann die der verbandelten Parteien, und dann vielleicht auch mal die der Arbeitnehmer ist allgemein bekannt.

Ich bin im Gegensatz dazu hochkonstruktiv und hätte ich mir einen salomonischen Vorschlag für ein neues Ladenöffnungsgesetz überlegt, der den Schutz der Angestellten sowie die Wünsche der Konsumenten vereint:

Jeder Laden bzw. Supermarkt darf pro Woche bis zu 110 Stunden geöffnet haben (also in etwa die gleiche Summe wie auch jetzt schon bei Supermärkten üblich). Wie diese Stunden aufgeteilt sind, ist allerdings frei wählbar. Arbeitszeit außerhalb der üblichen Geschäftszeiten sind weiterhin als 50- oder 100-prozentige Überstunden abzugleichen.

Durch diese Öffnung ((Pun intended.)) wird langfristig innerhalb eines gewissen Umkreises ein optimiertes Equlibrium erreicht. Denn gewisse Geschäfte werden dann wohl Sonntags und Nachts aufsperren, dafür vielleicht Vormittags geschlossen haben, während andere die jetzigen Öffnungszeiten fortführen werden.

Überhaupt wird durch dieses flexible Modell schnell unbewiesene Argumentation wie „Keiner will am Sonntag einkaufen“ vs. „Jeder will am Sonntag einkaufen“ aus der Welt geschafft. Denn die betroffenen Geschäfte werden selbst am schnellsten merken, wann sie den meisten Umsatz machen – und dementsprechend geöffnet halten. Die Konsumenten stimmen also selbst höchst direkt- und basisdemokratisch ((Nicht einmal die dicke Mauer Neugebauer dürfte es schaffen, sich ein Argument gegen „Basisdemokratie“ aus der Nase zu ziehen.)) mit ihrem Einkaufsverhalten über die Ladenöffnungszeiten ab.

Und am mehr als gesättigten österreichischen Einzelhandels-Markt wäre Potential für effektive Alleinstellungsmerkmale geschaffen: Mitternächtliches Schuh-Shopping für schlaflose Managerinnen? Frisches Gemüse für den Sonntagsbraten? Das ausgegangene Bier für die Samstag-Nacht-Party? Alles kein Problem – irgendwo in der Nähe wird sich ein findiger Einzelhändler diese Marktlücke nicht nehmen lassen.