Kommt ein neues Biedermeier?

Nicht akute Schreibfaulheit oder gar chronische Inspirationslosigkeit hat Schuld, dass ich schon so lange keinen neuen Beitrag mehr getippt habe. Mitnichten!

Grund ist viel mehr eine altbekannte, neu aufflammende gesellschaftliche Strömung, derer auch ich mich beim besten Willen nicht verschließen kann und die mich ganz unbewusst weg aus der kritischen Öffentlichkeit des Interwebs heim ins private Idyll zieht:

Oh ja, ich glaube, wir haben ein neues Biedermeier. Oder sind zumindest gerade dabei, in eines hinein zu schlittern.

Bevor nun der geschichtlich versierte, sich aber trotzdem als modern und aufgeklärt empfindende Leser die Nase rümpft und verächtlich diesen Tab schließt, erlaube er mir eine gar nicht so kurze Listung interessanter Parallelen zwischen dem originalen Biedermair (1815 – 1848) und 2014:

Zensur

Im Geschichtsunterricht lernt man vom Biedermeier vor allem, dass es eine Zeit der strikten Zensur, der Überwachung und des Spitzelwesens war, ganz besonders in Österreich unter dem berühmt-berüchtigten Fürsten Metternich.

Man muss schon sehr die Augen verschließen, um nicht zu merken, dass es heutzutage eine vergleichbare Tendenz der zunehmenden Überwachung und Bevormundung durch den Staat gibt: Einerseits – wie auch schon früher – mithilfe des vorgeschobenen Totschlagarguments „Sicherheit“, andererseits aber auch viel perfider zum scheinbaren Schutz von Urheberrechten und veralteten Geschäftsmodellen.

Rückzug ins traute Eigenheim

im 19. Jahrhundert, ganz besonders im Biedermeier, waren Handarbeiten die Hauptbeschäftigung für Frauen des Bürgertums. Jeder, der schon mal eine jener bunt gemischten Strickrunden in Kaffeehäusern gesehen hat, kann gewisse Parallelen zur Gegenwart nicht leugnen. Eigentlich scheint es heutzutage sogar noch viel schlimmer zu sein.

Daneben erlebt auch die Heimwerkerei einen ganz enormen Aufschwung. Irgendwie scheint ein jeder gerade irgendetwas zu seinem Projekt machen zu wollen. Nicht zuletzt die schier zahllosen Hausbau- und -renoviershows im Fernsehen zeigen ganz klar: Das traute Eigenheim ist gerade wieder groß im Kurs.

Und das Fernsehen zeigt auch gleich noch einen zusätzlichen Trend auf, der den Schwerpunkt auf die Idylle der eigenen vier Wände legt: Koch-Shows. Generell gilt es ja schon fast als verpönt, etwas nicht selbst gemacht zu haben.

Prüderie

Geradezu legendär war das spröde Wiener Bürgertum des Biedermeier, das nach außen hin den moralischen Zeigefinger hob, auf dunklen Hinterhöfen aber der Prostitution zu neuen geschäftlichen Höhenflügen verhalf.

Und im „aufgeklärten“ 2014? Gerade jetzt erst hat Großbritannien eine ganze Reihe von Praktiken in der Pornografie verboten. Und auch bei uns rutscht Prostitution immer mehr ins illegale Zwielicht ab und die Ideale der freien Sexualität der 68er liegen scheinbar gar noch länger als das Biedermeier zurück.

Klimaprobleme

Was 1815 ein Vulkanausbruch mit folgender, extremer Klimaabkühlung war, ist heute die Klimaerwärmung. Gab es damals keinen Sommer, scheint diesmal der Winter auszubleiben (der geneigte Leser verzeihe mir dieses billige Witzchen).

Damals wie heute aber sicher mit ein Grund für die um sich greifende, ständig steigende Unsicherheit und des darauf folgenden unwillkürlichen Rückzugs aus der öffentlichen Gesellschaft.

Und am Ende : Revolution

Das originale Biedermeier hat mit einer ganzen Menge Revolutionen geendet. Die haben zwar nichts in jenem Umfang geändert, wie von den Revolutionären damals erhofft wurde, aber zumindest die Saat für die großen Umschwünge des 20. Jahrhunderts gelegt.

Man darf also gespannt sein, wie es im beschützten, noch von Unruhen verschonten Mitteleuropa weiter gehen wird. Es wäre aber sicher nicht das erste Mal, dass sich die Geschichte wiederholt …

Ein Gedanke zu „Kommt ein neues Biedermeier?“

  1. Entzückt habe ich die neuen Zeilen genossen, die im Jahre 2014 nur selten anzutreffen waren.

    Auch wenn vieles des Gesagten zutreffend ist, kann ich in Bezug auf Kochshows nur die Nase rümpfen. In Zeiten in denen die Jugend sich nur durch den Konsum von Burger, Pizza und Pasta über Wasser hält, kann nicht von einer Neigung zum Selbstgekochten gesprochen werden. Vielmehr gibt es hier einen kleinen Kreis der „Auserwählten“ welche zusätzlich auch noch auf die Qualität der Zutaten Wert legt und sich diese auch leisten will/kann.

    Ob es schlussendlich zu einer Revolution kommen wird steht in den Sternen, da die Bevormundung der BürgerInnen schon weit fortgeschritten ist und diese oft zu Desinteresse und selbstzugeschriebener Machtlosigkeit geführt hat.

    Gzg OldMan